Wolfskinder

Von der Autorin Johanna Ellsworth stammt der Roman „Das Wiegenlied der Wolfskinder.“ Die Schriftstellerin ist nach einem erfolgreichen Magisterabschluss in Amerikanistik, Anglistik und Germanistik als beeidigte Urkundenübersetzerin, Verhandlungsdolmetscherin und Literaturübersetzerin für die englische Sprache tätig. Ihr historischer Roman ist brandaktuell, obwohl er im Winter 1944/45 angesiedelt ist. Zeigt das Werk der Autorin doch, das Vertreibung und Flucht kein Alleinstellungsmerkmal für den Nahen Osten ist. Auch zahlreiche Deutsche waren einst Flüchtlinge und dankbar, wenn sie auf der Flucht von Ost nach West ihr nacktes Leben retten konnten. Johanna Ellsworth macht uns bekannt mit zwei Kindern, mit Gretel und dem kleinen Karlchen. Ihre Heimat ist Gerdauen in Ostpreußen.

Die anrückende Rote Armee hat zwar Menschen aus KZs befreit und ihnen das Leben gerettet, aber leider auch mancherorts Schrecken verbreitet. Gerieten Frauen und Mädchen einigen Soldaten der UdSSR in die Hände, kannte die Männerhorde keine Gnade und betrachtete die Frauen als Kriegsbeute, mit der man tun und machen kann, was ein Rotarmist will. So kommt es nicht von ungefähr, das Gretel, Karlchen und die Mama sowie die Oma sich Richtung Reichshauptstadt Berlin absetzen wollen. Dort bekämen die Gerdauer auch problemlos Quartier, da Angehörige der Mutter in Berlin wohnen. Die Flucht aus dem einst so beschaulichen und landwirtschaftlich geprägten Ostpreußen ist beileibe aber keine Spazierfahrt. Krankheit, Hunger, Tod, Zwangsarbeit und gesetzlose, lichtscheue Gestalten sind alltägliche Wegbegleiter. Hinzukommt, dass die Essensrationen so bemessen sind, das man nur noch von einer Spatzenration reden kann. Die acht Jahre alte Gretel soll den Hunger lindern, indem sie in Litauen Waren gegen Lebensmittel eintauscht. Die Mutter kam ums Leben und die Geschwister verschlägt es auf einen Bauernhof in Litauen. Dort kommt es zur Trennung von Gretel und dem kleinen Karlchen. Der Roman ist ein gelungener Mix aus Erlebnisbericht und Fiktion. Er blickt auch in unsere Vergangenheit. Wer weiß denn überhaupt noch, dass der Begriff „Wolfskinder“ für Kinder steht, die im nördlichen Ostpreußen am Ende des Zweiten Weltkrieges elternlos ins benachbarte Litauen geflüchtet sind bzw. von den Eltern dorthin gebracht wurden? Die Litauer nannten diese Kinder „vokietukai“, was übersetzt „kleine Deutsche“ bedeutet. Heute macht sich doch gar kein satter Westeuropäer mehr darüber Gedanken, was es heißt, tagelang ohne Nahrung auskommen zu müssen. Das wissen nur noch die wenigen Menschen, die den Zweiten Weltkrieg und all seine negativen Auswirkungen leibhaftig mitgemacht haben. Was Glück für Gretel bedeutet, ist im Roman beispielsweise auf den S. 158/159 zu lesen. Das Mädchen möchte zum Bahnhof und kann im letzten Moment einem großen, knurrenden Hund entkommen. „Erleichtert lief sie weiter und kam müde und kraftlos am Bahnhof an. Als der Zug in den Bahnhof rollte und mit quietschenden Rädern bremste, schleppte sie sich mit ihrer Last hin. Sie quälte sich die Stufen hinauf, als der Schaffner das erschöpfte Mädchen sah und es kurzerhand hinein winkte. Das bedeutete, dass sie ohne Fahrkarte im warmen Abteil mitfahren durfte.“ In der Bahnhofshalle in Tauroggen freut sich Gretel, eine Ecke zu finden, die nur gering „nach Erbrochenem und Urin stank. Sie nahm sich eine Brotkante und einen Apfel aus ihrem kostbaren Vorrat...“ Wer heute in Deutschland versucht, ein acht Jahre altes Kind mit einer Brotkante und einem Apfel zu beglücken, wird wohl als Irrsinniger bezeichnet werden. Kinder auf der Flucht aus Kriegsgebieten sehen das bestimmt ganz anders! Wer das Werk von Johanna Ellsworth liest, hat nicht nur einen beeindruckenden Roman in seinen Händen. Der Leser bekommt, so noch nicht vorhanden, ein Gespür dafür, was es heißt, Flüchtling zu sein. Dank des Romans „Das Wiegenlied der Wolfskinder“ sieht der ein oder andere Zeitgenosse nicht verächtlich auf Flüchtlinge herab und betrachtet sie als „Schmarotzer“ oder „Asylbetrüger.“ Grete und Karlchen stehen auch für hunderttausende ehemalige und aktuelle Flüchtlinge.
Johanna Ellsworth
Das Wiegenlied der Wolfskinder
Historischer Roman
Husum Verlag 2016
275 Seiten
ISBN: 978-3-89876-819-1
14,95 Euro im deutschen Buchhandel. Das Werk ist am 15. April 2016 erschienen. (Text/Foto: VTN)