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Die Journalistin Kristin Helberg gilt als ausgesprochene Experten zum Thema Syrien. Sieben Jahre lang hat sie von der syrischen Hauptstadt Damaskus aus berichtet, zahlreiche ihrer Familienmitglieder wohnen noch dort. Gleich am Anfang ihres Werkes stellt die Autorin ein Zitat von Firas Lutfi voran. Der deutsch-syrische Aktivist für Menschenrechte sagte: „Syrien ist die Wiege der Zivilisation und das Grab der Menschlichkeit.“

Der schon als Völkermord zu bezeichnende Bürgerkrieg ist mittlerweile seit 5 Jahren im Gange. Nicht nur in Damaskus und Aleppo sterben tagtäglich Menschen durch Bomben und Kugeln, an Medikamentenmangel, an Hunger und an Kälte sterben ebenfalls hunderttausende Syrer. Tausende sind bei der Flucht aus dem Kriegsland im Mittelmeer ertrunken oder wurden von Räuberbanden ausgeraubt und ermordet. Das Zitat von Firas Lutfi, einem aus Syrien geflüchteten Diplomingenieur, der jetzt in Bonn lebt, hat die Schriftstellerin nicht grundlos an ihr Werk voran gestellt. Es ist auch als ein Hilfeschrei an die Weltgemeinschaft zu sehen. Die Weltgemeinschaft hat jedoch für Syrien kaum Zeit und Interesse. Das prangert Kristin Helberg zu Recht an. Nur ändern kann sie natürlich nichts an der Haltung der Staatschefs. Man sieht es ja bei den Feuerpausen. Wie schwer ist es, dass sich der russische Präsident Putin und US-Präsident Obama auf nur wenige Stunden Feuerpause für Aleppo einigen? Wenn die kleine Feuerpause schon so schwer herbeizuführen ist, wie schwer ist es dann erst, das ganze Land zu befrieden? Es ist nicht nur der Tod, der für die Syrer zum Alltagsleben gehört. Millionen Menschen aus Syrien, die in Nachbarländern wie Jordanien, Türkei und Libanon im wahrsten Sinne des Wortes ihre Zelte aufgeschlagen haben, wissen nicht, wann sie in ihr Heimatland zurückgehen können. Es stellt sich sogar die Frage, ob das jemals der Fall sein wird. Kristin Helberg weist nicht nur auf dieses Elend hin. Hunderttausende Kinder in dem Kriegsland und in den Flüchtlingslagern besuchen seit Kriegsausbruch keine Schule mehr. Da verkümmert geistig gesehen eine ganze Generation. Wer heute keine Schulbildung aufweisen kann, fehlt morgen als Arzt oder Apothekerin. Im Landesinneren kommt es ebenfalls zu Wanderungen. Staatsdiener beispielsweise ziehen in die Orte, wo noch halbwegs eine Infrastruktur vorhanden ist. Sie ziehen in die Stadt, wo sie noch Geld für ihre Tätigkeit erhalten. Oft ziehen sie vierteljährlich um, immer dem Gehalt hinterher. Die Autorin geht auch der Frage nach, warum wir Deutschen vielfach überhaupt Angst haben vor Flüchtlingen aus Syrien. Was wollen die Flüchtlinge in Deutschland ausrichten? Planen sie mehrheitlich, irgendwann zurückzukehren in ihr Heimatland? Wollen sie für immer hierbleiben? Der Kulturschock betrifft beide Seiten. Selbst wenn nur jede 50.000 Frau aus Syrien, die hierzulande Zuflucht gesucht hat, eine Burka trägt, heißt es dann sofort: „Alle Syrerinnen beziehungsweise die große Mehrheit läuft voll verschleiert herum.“ Die aus dem sonnigen Syrien stammenden Menschen vermissen hier all das, was das Land zu Friedenszeiten gekennzeichnet hat. Der Plausch unter Nachbarn wird vermisst. In den Städten Deutschlands hetzen die Leute zur Arbeit. Treffen sie dabei zufällig einen Nachbarn oder ehemaligen Schulkameraden, grüßt man vielleicht noch kurz und verabredet sich zum Gespräch in einem Monat. All das ist für einen Syrer kaum nachvollziehbar. Mit ihrem Werk „Verzerrte Sichtweisen“ zeigt die Autorin Kristin Helberg auf, wo der Hebel angesetzt werden muss. Dabei mahnt sie oft, sie erklärt und informiert. Der drohende Zeigefinger der besser wissenden Oberlehrerin ist ihr fremd. Das macht das Buch auch so lesenswert. Eines ist auch klar: Das Land Syrien und die Syrer haben Anspruch darauf, den Friedenshandschlag zu erhalten, sobald es die Zustände wieder erlauben. Schließlich haben wir Deutschen nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg im Laufe der Zeit auch erleben dürfen, wieder Mitglied der Welt- und Wertegemeinschaft geworden zu sein. Was für uns Deutsche einst galt, sollte auch für die Syrer gelten. ((Text/Foto: VTN)

Kristin Helberg
Verzerrte Sichtweisen
Im Untertitel lautet es: Syrer bei uns
Herder-Verlag
ISBN: 978-3-451-31157-4
24,99 Euro im deutschen Buchhandel
Erschienen 2016
Gebunden mit Schutzumschlag
272 Seiten