niemeyer 777x437TEXT und FOTOS: INGRID MÜLLER-MERTENS

An der schmalsten Stelle der Sonneninsel Usedom, dort, wo die Ostsee quasi das Achterwasser küsst, begegnet man einem der ganz selten Orte, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen: Lüttenort. Eine Idylle voller Poesie, Anmut und magischem Zauber. Wahlheimat und Refugium des Malers Otto Niemeyer –Holstein (1896-1984). Heute Museum und Besuchermagnet.

 Es war Liebe auf den ersten Blick, als ONH  - so signierte er seine Bilder – zu Beginn der 1930er Jahre mit seinem Segelboot das damals ziemlich spröde einsame Fleckchen entdeckte. Die raue, karge Natur nahm ihn sofort gefangen. Lüttenort nannte er das 400 Quadratmeter große Brachland, erwarb es und ließ für sich, seine Frau Anneliese und den kleinen Sohn einen ausrangierten S-Bahn-Waggon aus Berlin herschaffen. Das Herzstück des Anwesens, um das sich nach und nach Wohnräume, Küche und Atelier gruppierten.

Man lebt äußerst bescheiden auf Lüttenort, zumeist von dem, was der Garten und das Angeln hergeben. Vor allem wollte der im ersten Weltkrieg traumatisch verwundete Künstler im abgelegenen Exil Ruhe finden vor „Sieg Heil“ und dem bedrohlich erstarkenden Nationalsozialismus, zumal seine Frau Halbjüdin ist. Einige seiner Bilder, die bereits in Ausstellungen gezeigt waren, hatten die Nazis als „entartet“ beschlagnahmt. Aus Angst um Sohn, Frau und die jüdische Schwiegermutter meldet sich der fast 50-Jährige zum Ersatzdienst, wird an den Ostwall geschickt, kann fliehen und überlebt. Erst in der DDR-Zeit,  ab 1948,  konnte Niemeyer-Holstein seine Werke wieder im In- und Ausland ausstellen.

Lüttenort blieb zu jeder Zeit Rückzugsort und unerschöpfliche Inspirationsquelle für sein künstlerisches Schaffen. Immer im Einklang und Harmonie mit der Natur. Denn die Natur war das bevorzugte Motiv. Als Vertreter eines Expressiven Realismus ging es dem „Picasso des Nordens“ immer darum, das Elementare der Wirklichkeit sichtbar zu machen aber den Augenblick ganz subjektiv darzustellen. Trotz Abstraktion auf das Wesentliche sollte die Atmosphäre der Landschaft immer erkennbar sein. Später wird er unter dieser Maxime mit Gleichgesinnten die „Usedomer Malerschule“ bilden.

Täglich, bis ins hohe Alter, spaziert ONH die wenigen Meter über die Düne zum Strand, bei Wind und Wetter. Stellte Klappstuhl und Staffelei auf und gab sich ganz dem Augenblick hin. „Der Strand ist meine große Geliebte – sie hat mich nie enttäuscht“, resümierte er einmal. In fünf Jahrzehnten sind hier bei seinen Wanderungen am Strand, Grafiken, Ölbilder und Aquarelle von herber Schönheit entstanden, unverwechselbar in ihrer Handschrift. Das vibrierende Licht, Spiel der Farben und der Zusammenprall der Naturkräfte faszinierten ihn immer wieder. Besonders im Winter. Der authentische, unwiederbringliche Moment geben seinen Bildern den besonderen Reiz.

Er ist der wohl bedeutendste „Ostseemaler“ – ein Heimatmaler ist er nicht. Bei ihm hat der Usedomer Strand unzählige Gesichter und unendlich viele Facetten im Spannungsfeld zwischen Meer, Wolken, Sonne und Wind.   Er beoabachtet die Natur an sich und interpretiert sie in kühler aber bestechender Farbigkeit mit seinen ganz persönlichen Empfindungen und Gefühlen.

TABU hat ONH an seine Ateliertür geschrieben. Aber er war ganz und gar kein Maler im stillen Kämmerlein. Zu jeder Zeit scharte er Gleichgesinnte um sich. Lüttenort war immer ein Ort der Begegnung, Eine geistige Oase jenseits jedweder staatlicher Reglementierung, ein inspirierender Freiraum für ihn und zahlreiche Künstlerkollegen.

Die diskutierten nicht nur, sondern nutzten den kreativen Geist des Ortes. Und so entstanden hier eine Reihe von Gemälden der Künstlerkollegen. Wildromantisch der Garten mit den Skulpturen der befreundeten Bildhauer. Plastiken von Werner Stötzer, Gustav Seitz, Wieland Förster, Bernhard Grzimek und vielen anderen machen heute auch den besonderen Reiz der original erhaltenen Wohn-und Arbeitsstätte Otto Niemeyer-Holsteins aus.

Heute ist Lüttenort eine Fundgrube an zeitgeschichtlichen, kunst- und kulturhistorischen Zeugnissen und auch sehr privaten Erinnerungen. Und man kann sich nicht satt sehen an den mit so viel Liebe zum Detail gestalteten Wohnräumen, an all den verwunschenen Ecken im kleinen aber auf jedem Quadratzentimeter optimal genutzten Garten.

Auf Schritt und Tritt spürt man die prägende Persönlichkeit eines großen Künstlers und beeindruckenden Menschen, von Museumsleiterin Franka Keil während der Führung liebevoll und berührend nahegebracht.

Für die Besucher wurde neben dem Wohnhaus 2001 eine Galerie gebaut, die sich sehr harmonisch an das Areal angepasst. xniemeyer5_jpg_pagespeed_ic_-w1jNBOGpXWechselnde Ausstellungen, Lesungen und Konzerte sind das ganze Jahr Insider-Tipps. Noch bis zum 15.Oktober sind Gemälde von Manfred Böttcher zu sehen.

Otto Niemeyer-Holstein wollte, dass alles so bleibt, wie zu seinen Lebzeiten. Es sollte nicht wirklich ein Museum sein, sondern weiterhin eine lebendige, inspirierende Stätte der Begegnung, in der er immer noch allgegenwärtig ist.

Und so ist es auch gekommen.

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